
In Südostasien wurden die Menschen heute von einem starken Erdbeben überrascht. Warum ist es so schwer, Frühwarnsysteme zu errichten?
Professor Klaus Reicherter: Weil es keine oder nur schwache Anzeichen gibt, wann sich das Erdbeben ereignet. Und wenn sich ein Beben einmal ereignet hat, bewegen sich die Wellen mit ungefähr sechs Kilometern pro Sekunde - für ein Warnsystem bleibt da für Orte nahe dem Epizentrum schlicht keine Zeit.
Ein Beben kündigt sich also in keinster Weise an?
Reicherter: Es gibt Erdbeben, die sich durch Vorbeben ankündigen, das ist aber selten und Ort und Stärke können nicht vorhergesagt werden. Also nein, in erdbebengefährdeten Gebieten bleibt häufig nur die direkte Reaktion auf ein Erdbeben. In der Vergangenheit wurden nach sehr starken Erdbeben im Nachhinein gewaltige geowissenschaftliche Datenmengen ausgewertet, um zu schauen, ob sich eindeutige Indikatoren finden lassen. Wenn man aber drei Monate rechnen muss, um ein bestimmtes Signal zu filtern, taugt das natürlich nicht als Warnsystem. Wir sind noch nicht so weit, und müssen andere Wege zum Schutz gehen, beispielsweise Übungen und Vorbereitung der Bevölkerung.
Können KI und Supercomputer das vielleicht ändern?
Reicherter: Wenn eindeutige Indikatoren gefunden werden: Ja. Das wäre der Durchbruch. Es wurde viel versucht. Das Verhalten von Tieren wurde untersucht, es gibt Quellen, die ihre Schüttung, Temperatur oder Chemie ändern. Vor einem Erdbeben kann es beispielsweise Mikrobrüche geben, die zu messbaren, akustischen Signalen führen. Aber: Die Welt rauscht und rumpelt so stark, dass es noch nicht möglich ist, diese Signale vernünftig zu filtern und eindeutig zu interpretieren. An der kalifornischen St. Andreas-Störung beispielsweise wurden riesige Mengen an Daten gesammelt, an einem Warnsystem sind die Kolleginnen und Kollegen aber auch gescheitert, da gibt es einfach nichts, was auf Vorboten eines starken Erdbebens hinweist. Was die Vorwarnung vor einem Beben angeht, sind wir in der Erdbebenforschung seit Charles Richter um 1930 noch nicht viel weiter, vielleicht kann KI das eines Tages leisten. Noch ist das nicht möglich.
Was also tun?
Reicherter: Ordentlich bauen. Die Ingenieure sind nämlich sehr viel weiter als noch 1930. Man kann die Menschen schützen, indem Gebäude erdbebensicher gebaut werden, das kostet natürlich viel Geld und braucht auch einen administrativen Willen. Natürlich können die schlimmsten Schäden bei sehr starken Erdbeben nicht verhindert werden, aber durch gezielte und angepasste Baumaßnahmen sehr stark eingedämmt werden.
Was genau ist heute in Myanmar passiert?
Reicherter: Es hat sich ein Erdbeben Magnitude 7,7 ereignet - in dieser Zone ist das durchaus nicht ungewöhnlich. Es gibt dort den Sundabogen, das ist die Kollisionszone zwischen der eurasischen und der indisch-australischen Platte. An dieser Plattengrenze wurde auch der fürchterliche Tsunami am zweiten Weihnachtstag 2004 ausgelöst. Der Bogen ist die Verschluckungszone, dort taucht die indisch-australische Platte unter die eurasische ab. Durch die Kugelform der Erde muss es immer Ausgleichsbewegungen auf der Oberplatte, hier die eurasische, geben, der Radius der Erde bleibt konstant. Durch diese horizontalen Bewegungen an Blattverschiebungen wird dies hinter dem vulkanischen Bogen ,,ausgeglichen". Die dortige 1200 Kilometer lange Sagaing-Verwerfung, die mitten durch Myanmar verläuft, ist aktiviert worden und hat zu dem schlimmen und starken Erdbeben geführt.
Wie ist Magnitude 7,7 einzuordnen?
Reicherter: Ziemlich heftig. Das stärkste Beben in Deutschland wird mit Magnitude 6,5 erwartet, 7,7 bedeutet mehr als 12-mal so stark, circa 35-mal mehr Energie wird freigesetzt. Daher hat das Beben auch so lange gedauert, dieses Schütteln hat sehr lange angehalten, die Erde hat sich minutenlang bewegt.
Je stärker das Beben, desto länger auch die Erschütterung?
Reicherter: Je stärker das Beben umso länger die aktivierte Verwerfung. Eine kurze Verwerfung macht nicht solche starken Erdbeben und Versätze. Zum Vergleich: Die Erdbeben in der Niederrheinischen Bucht finden an 50 bis 70 Kilometer langen Verwerfungen statt.
Wie lange müssen die Menschen nun mit Nachbeben rechnen?
Reicherter: Lange, das kann bis zu einem Jahr dauern, normalerweise sind es zwei bis drei Monate. Die ersten Nachbeben hat es bereits kurz nach dem Beben gegeben, die größten immer so rund eine Magnitude schwächer als das eigentliche Beben, kleine Nachbeben sind permanent da. Das muss man sich wie einen andauernden Bruchprozess entlang der Verwerfung vorstellen, ähnlich wie ein Reißverschluss. Das führt letztlich auch zu den Rupturen, also den Rissen in der Erdoberfläche. Ab einer gewissen Stärke kommt die Verwerfung an die Oberfläche, die Oberfläche reißt.
Nehmen die Nachbeben in der Stärke ab? Was müssen die Menschen noch befürchten?
Reicherter: Es wird nicht reichen, mal zwei Nächte draußen zu bleiben. Viele Gebäude werden durch das Hauptund die stärkeren Nachbeben beschädigt sein. Das bedeutet, dass auch kleinere Nachbeben sie zum Einsturz bringen können. Die Überprüfung der Gebäude in Großstädten wie Bangkok und Mandalay ist natürlich eine Mammutaufgabe.