Das genetische Geschichtsbuch der Steinzeit

Unterkiefer der 19 000 Jahre alten
Unterkiefer der 19 000 Jahre alten "Roten Lady aus der El Mirón Höhle" im Norden Spaniens. Ein früher Zweig der europäischen Gründerpopulation war für etwa 15 000 Jahren weitgehend aus Europa verdrängt, bevor er sich wieder über den Kontinent ausbreitete. Dieses Individuum ist das erste in der Studie, das den Wiederaufstieg der Ursprungspopulation belegt. [weniger]

Forscherteam belegt eine bewegte Geschichte Europas vor und während der letzten Eiszeit

Ein internationales Forscherteam aus den Max-Planck-Instituten in Jena und Leipzig sowie der Universität Harvard untersuchte die DNA von Menschen, die in der Zeit von der Erstbesiedlung des Kontinents bis zum Aufkommen der Landwirtschaft in Europa lebten. Die Befunde weisen auf Perioden langer Kontinuität und auf bisher unbekannte Bevölkerungsbewegungen hin. (Nature, 2. Mai 2016)

Unterkiefer der 19 000 Jahre alten "Roten Lady aus der El Mirón Höhle" im Norden Spaniens. Ein früher Zweig der europäischen Gründerpopulation war für etwa 15 000 Jahren weitgehend aus Europa verdrängt, bevor er sich wieder über den Kontinent ausbreitete. Dieses Individuum ist das erste in der Studie, das den Wiederaufstieg der Ursprungspopulation belegt.

Zur Überraschung des Forscherteams fanden sie einen weiteren, bislang unbekannten Wandel der Bevölkerung vor ungefähr 14.000 Jahren. Von da an besteht zwischen Europäern und den heute im Nahen Osten lebenden Menschen eine genetische Verwandtschaft. ,,Bisher gingen wir davon aus, dass mit der Einführung der Landwirtschaft vor circa 8.500 Jahren, als Bauern aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa einwanderten und die Jäger und Sammler verdrängten, eine genetische Durchmischung erfolgte, aber unsere Daten deuten auf eine weitere 6.000 Jahre frühere Einwanderung hin ", führt Cosimo Posth vom MPI für Menschheitsgeschichte aus.

Es gibt zwei Hypothesen, um die Ursache für diese dramatische Veränderung in der Genetik der frühen Europäer zu erklären - entweder sind Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert, oder die Menschen aus dem Südosten Europas wanderten zu dieser Zeit sowohl nach Mitteleuropa als auch in den Nahen Osten ein, so dass die Populationen eine größere genetische Verwandtschaft zeigen. Um weitere Aufschlüsse über diese Migration zu erhalten, werden die Forscher in den nächsten Jahren versuchen, menschliche Überreste insbesondere aus Südosteuropa und dem Nahen Osten zu untersuchen.

Rückgang des Neandertaler-Anteils im Genom

Die Daten lieferten noch mehr Überraschungen. ,,Über einen Zeitraum von 30.000 Jahren ist der Anteil der Neandertaler-DNA im Genom der modernen Menschen kontinuierlich zurückgegangen, ohne dass eine nachweisbare Vermischung mit Menschengruppen ohne Neandertaler-DNA stattgefunden hat. Dies lässt schließen, dass der Rückgang auf Grund natürlicher Selektion erfolgte", sagt Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. "Es scheint, dass viele genetische Varianten die in den Neandertalern vorkamen für den prähistorischen modernen Menschen nachteilig waren".

Genetische Cluster und steinzeitliche Kulturen

Die Forscher sind einer weiteren, unter Experten seit langem diskutierten Frage nachgegangen. Bislang beruhte die Einordnung in unterschiedliche prähistorische Bevölkerungsgruppen primär auf archäologischen Funden. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen oder gleichen Kulturen besagt jedoch nicht zwingend, dass die Menschen unterschiedlichen bzw. der gleichen genetischen Gruppe angehörten.

Drei ca. 31.000 Jahre alte Schädel aus Dolni V?stonice im heutigen Tschechien. Alle in der Studie analysierten Proben der folgenden 5000 Jahre - egal ob aus Beligen, Tschechien, Österreich oder Italien - waren eng verwandt. Dies lässt auf eine Expansion der Bevölkerungsgruppe schließen, die mit der Gravettien-Kultur assoziiert wird.

Die Wissenschaftler gruppierten die untersuchten menschlichen Überreste deshalb zunächst ausschließlich anhand der Genomdaten und betrachteten erst danach die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: So konnten einige genetisch definierte Gruppen bestimmten Kulturen zugeordnet werden, z. B. für die als ,,Mammutjäger Osteuropas" bekannte Bevölkerungsgruppe, die vor 27.000 Jahren Europa besiedelte, der sogenannten Gravettien-Kultur.

In andern Fällen traf dies nicht zu. So fanden die Forscher, dass eine Gruppe in Westsibirien, die kulturelle Ähnlichkeiten zu den Gravettien aufweist, das reichliche Vorkommen der berühmten Venus-Statuetten etwa, nicht besonders nahe mit den Mammutjägern in Osteuropa verwandt war.

Um weitere Aufschlüsse über die Migrationen und Bevölkerungsgeschichte Europas zu erhalten, werden die Forscher jetzt ihre hochempfindlichen Methoden auf Funde aus weiteren Regionen Europas und angrenzenden Teile der Welt anwenden. ,,Wir sind erst am Anfang. Wir haben quasi das genetische Geschichtsbuch der Steinzeit erst aufgeschlagen", summieren Johannes Krause und Svante Pääbo, die die Arbeiten in Jena und Leipzig leiteten, ihre Ergebnisse.