Wie geht Ernährung heute?

Mann in einem Labor
Mann in einem Labor
Warum Salz kein Killer und Fett nicht per se ungesund ist. Professor Thorsten Cramer über die richtige Einstellung zur Ernährung.

In der Interviewreihe ,,Große Fragen" beantworten Expertinnen und Experten der RWTH Aachen Fragen, die die Welt bewegen. Den Auftakt macht Professor Thorsten Cramer. Er ist Facharzt für Innere Medizin und leitet seit 2014 das Lehrund Forschungsgebiet ,,Molekulare Tumorbiologie" an der Uniklinik RWTH Aachen. Er ist aktuell Erster Vorsitzender von KetoMed e.V. (www.ketomed.de), einer internationalen Fachgesellschaft, die unabhängige Informationen über kohlenhydratreduzierte Ernährungsformen zur Verfügung stellt. Neben der Ernährung interessiert er sich für evidenzbasierte Medizin und zunehmend auch für die Grundgedanken der Wissenschaftsphilosophie.

Was haben Sie denn heute bislang gegessen?

Professor Thorsten Cramer: Zum Frühstück gab’s Omelette mit Parmesan, mittags dann Blattsalat mit gebratenem Hähnchen.

Klingt gut und nicht nach ,,Western Diet". Warum glauben Sie, ist bei der Bevölkerung noch nicht angekommen, dass Zucker, hochverarbeitete Kohlenhydrate und Ähnliches nicht gesund sein können?

Cramer: Es ist in Deutschland nicht klar, wie das Thema am besten vermittelt werden kann. Viele denken, man publiziert irgendetwas, schreibt einen Artikel oder stellt es auf die Webseite und dann lesen sich das alle durch und werden sich danach gesund ernähren. Wenn man wirklich möchte, dass Menschen sich gesund ernähren, dann braucht man dafür eine andere Infrastruktur. Ich glaube, wir müssen besser unterstützen, wir brauchen eine bessere Vermittlung der wesentlichen Informationen und wir müssen den Menschen bei der schwierigen Umstellung helfen. Da sind wir noch nicht.

Sie sagen, da sind wir noch nicht...

Cramer: Es braucht niedrigschwellige Angebote für die Bevölkerung, wo die Menschen auch gerne hingehen, ohne Ängste oder Bedenken. Eine solche Anlaufstelle wäre der sogenannte Gesundheitskiosk. Dort können wir erklären, dass und wie gesunde Ernährung machbar ist und Jede und Jeder das lernen kann. Später kommt dann die Praxis dazu, zum Beispiel zusammen einkaufen gehen, zusammen kochen oder lernen, wie man für einige Tage Essen vorbereiten kann. Ganz praktische Basisideen, wie das Leben der Menschen hinsichtlich gesunder Ernährung vereinfacht werden kann. Hier, in der sogenannten Versorgungsforschung, kann ich mir auch gut Forschungsprojekte vorstellen. Versorgung ist zentral wichtig, auch wenn sie nicht so prominent und angesehen ist wie beispielsweise die Krebsforschung. Aber: Wenn es gelingt, eine Infrastruktur zu etablieren, die Menschen dabei hilft, bestimmte Ernährungsumstellungen langfristig umzusetzen und dadurch gesünder zu werden, wäre das eine tolle Sache.

Sind die Menschen damit Überfordert, sich gesund zu ernähren?

Cramer: Langfristig auf jeden Fall. Das hat verschiedene Gründe. Ganz wichtig ist dabei der soziale Kontext. Jede Gesellschaft besteht aus verschiedenen Gruppen, die wir als Ärzte mal besser und mal weniger gut erreichen. Darauf muss man eingehen, mit Angeboten, die alle Menschen auch erreichen können. Konkret hieße das, ich brauche verschiedene Texte in verschiedenen Sprachen und Schwierigkeitsgraden. Dann ist es wahrscheinlicher, dass die Menschen ihre Bedenken verlieren und die Hemmschwelle gegenüber einer Ernährungsumstellung nicht mehr so hoch ist.

Werden wir vielleicht auch mit Informationen zum Thema Überfrachtet?

Cramer: Ja, da sehe ich ein sehr großes Problem. Es gibt zu viele verwirrende Informationen in den unterschiedlichen Medien. An einem Tag sind Eier ungesund, am nächsten Tag Superfood. Dazu gibt es dann große Überschriften in den verschiedenen Zeitungen, außerdem Experten, die eingeladen werden und ihre Sichtweise vermitteln wollen. Dagegen ist prinzipiell gar nichts zu sagen. Aber am Ende ist es so, dass die Menschen dadurch sehr oft verwirrt werden. Das ist auch eine Aufgabe der Universitätsmedizin und der Hochschule, den Menschen objektiv, transparent und frei von Interessenskonflikten wissenschaftliche Fakten zu vermitteln.

Ihre Definition von gesunder Ernährung?

Cramer: Das ist schon die erste entscheidende Frage. Wenn Sie hundert Leute fragen, die sich mit Ernährung beschäftigen, dann bekommen Sie hundert verschiedene Antworten. Das Problem ist, dass es keine Studien gibt, auf die wir uns beziehen können. Das hat viele Gründe. Erst einmal die erheblichen individuellen Unterschiede zwischen den Menschen, zum Beispiel hinsichtlich Geschlecht, Körpergröße, Alter, sozialem Status und ethnischer Herkunft. Das wird sehr komplex und kompliziert. Das hauptsächliche Problem ist aber, dass wir nicht wissen, was ,,gesunde Ernährung" konkret bedeutet, weil die entsprechenden Studien nie gemacht worden sind und wahrscheinlich auch nie gemacht werden. Sie sind viel zu teuer und viel zu schwierig durchzuführen.

Woran liegt das?

Cramer: Die sogenannten Goldstandard-Studien, die benötigt werden, um zum Beispiel Medikamente zuzulassen, können wir in der Ernährung theoretisch nicht machen. Es würde viel zu lange dauern und wäre sehr schwer durchzuführen, denn es ist nicht zu kontrollieren, was die Menschen essen. Wir müssten zwanzigbis dreißigtausend Menschen über dreißig Jahre lang beobachten - das ist utopisch. Deswegen müssen wir uns in der Ernährungswissenschaft auf Studien beziehen, die eben nicht so gut sind wie Goldstandard-Studien. Das sind meistens sogenannte Beobachtungsstudien. Da beobachtet man, wie die Studienteilnehmer sich ernähren, welche Krankheiten sie bekommen und wie lange sie leben. Diese Studien sind aber statistisch nicht dazu in der Lage, kausale Zusammenhänge beweisen zu können. Auf der Basis von Beobachtungsstudien werden seit Jahrzehnten unterschiedliche Zusammenhänge vermittelt, ohne dass sie durch valide wissenschaftliche Fakten bewiesen worden sind.

Sie bieten eine Sprechstunde an für Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlichen, metabolischen und hormonellen Erkrankungen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Cramer: Das ist absichtlich sehr breit gefasst, weil wir die Sprechstunde nicht nur auf ein Krankheitsbild einschränken wollen. Im klassischen Fall geht es um Stoffwechselkrankheiten: Fettleber, Zuckerkrankheit oder Bluthochdruck. Es gibt Hinweise, dass bei einigen Patienten der Bluthochdruck durch Ernährung zumindest mit unterhalten wird und auch durch eine Ernährungsumstellung verbessert werden kann. Dahingehend berate ich in dieser Sprechstunde. Aber es geht auch um chronisch entzündliche Krankheiten. Es gibt Entzündungsprozesse, die auf lange Sicht nicht förderlich sind. Das ist zum Beispiel bei verschiedenen Krankheiten des Herzens, der Lunge, der Leber und des Gehirns der Fall. Bei Adipositas ist das Fettgewebe auch sehr häufig entzündet, das treibt die Erkrankung an und steht einer effektiven Therapie im Weg.

Aber es kommen auch Menschen mit Krebserkrankungen zu mir in die Sprechstunde. Ein sehr schwieriges Thema, weil wir da einfach noch nicht wissen, wie gut eine Ernährungsumstellung wirkt oder noch deutlicher: Wirkt sie Überhaupt? Es gibt leider viel zu wenig Studien dazu. Ich berate Betroffene immer interdisziplinär, also zusammen mit den behandelnden Onkologinnen und Onkologen und anderen Fachärztinnen und Fachärzten. Die Sprechstunde ist offen für Alle, die denken, dass Ernährung ihnen helfen kann. Wir sprechen darüber, ich kläre auf, ganz transparent. Wir bieten das an, weil wir glauben, dass es in der Bevölkerung einen Bedarf gibt und wir möchten eine Plattform schaffen, an die sich Menschen aus der Region vertrauensvoll wenden können.

Kann man Alle durch Ernährung heilen?

Cramer: Nein. Wenn wir Erfolge sehen, heißt das nicht automatisch, dass es für alle Betroffenen richtig ist. Wir müssen die Subgruppe finden, also die Gruppe von Menschen, für die eine Umstellung der Ernährung hilfreich ist. Wir wollen gerne Medizin für den Menschen personalisieren, aber das klappt in weiten Teilen noch nicht gut. In manchen Disziplinen allerdings funktioniert es bereits gut, in der Krebsmedizin zum Beispiel. Auch in der Herzkreislaufmedizin wird zunehmend sehr gut personalisiert, denn Männer und Frauen haben andere Krankheitsverläufe, ein Herzinfarkt zum Beispiel ist bei Frauen ganz anders als bei Männern. Das Personalisieren ist sehr wichtig, auch in der Ernährungsmedizin.

Wie läuft eine Sprechstunde bei Ihnen ab?

Cramer: Ich nehme mir ausreichend Zeit, den Menschen zu erklären, was wir glauben, was gesunde Ernährung ist, womit wir gute Erfahrungen gemacht haben. Es gibt natürlich verschiedene Ideen über Ernährungsumstellungen und ich bin auch kein Missionar, sondern Wissenschaftler und Arzt. Dann erkläre ich, was sie selber machen können. Das kann aber immer nur der Anstoß sein. Das Problem ist: Nach zwei Wochen ist die Motivation oft wieder weg, das ist ganz normal und menschlich. Hier müssen wir besser helfen.

Meine Erfahrung ist, dass eine Ernährung, die darauf basiert, dass man weniger Kohlenhydrate zu sich nimmt, vielen Menschen helfen kann. Ich weiß natürlich vorher nicht, ob es dem einzelnen hilft, das thematisiere ich in der Sprechstunde auch ganz offen. Dann erkläre ich, was Kohlenhydrate sind und erkläre, wie die Patienten das machen sollen: Langsam anfangen und nur eine Hauptmahlzeit umstellen, denn es muss ja realisierbar sein. Wir sprechen hier nicht von Tabletten, die einmal am Tag eingenommen werden müssen, sondern von einer Lebensstilveränderung, die durchaus komplex und schwierig einzuhalten ist.

Geben Sie dann einen detaillierten Ernährungsplan an die Hand?

Cramer: Ich gebe keine Pläne mit, weil die Menschen das mittelfristig selber lernen müssen. Ich empfehle auch die ambulante Vorstellung bei Ernährungsassistentinnen und -assistenten. Die Kolleginnen und Kollegen sind viel praktischer orientiert als ich. Ich bin Arzt und vermittele die Theorien, die Umstellung muss dann zu Hause, idealerweise mit Partner, Partnerin und Kindern etabliert werden. Wir haben viele Patienten und Patientinnen mit einem Migrationshintergrund. Sie sind in der Familie oft viel besser eingebunden, das ist gut, denn dann machen sie das alle zusammen. Soziale Unterstützung kann sehr hilfreich sein.

Das Ziel bei ketogener, also fast kohlenhydratfreier, Ernährung ist 20 Gramm Kohlenhydrate am Tag?

Cramer: Ja, 20 Gramm Kohlenhydrate ist so gut wie kohlenhydratfrei. Die ketogene Diät ist eine Sonderform von Low Carb. Wir empfehlen eine moderate Kohlenhydrat-Einschränkung, 70 bis 100 Gramm pro Tag. Aber bitte nicht täglich ausrechnen! Dann wird es kompliziert und dann setzen die Patienten es nicht langfristig um. Ich empfehle, so viel wie möglich selber zu lernen: Einfach hinten auf die Verpackung schauen, um zu erfahren, wie viele Kohlenhydrate pro 100 Gramm enthalten sind.

Bei der Vorstellung von maximal 100 Gramm Kohlenhydraten pro Tag bekomme ich auf der Stelle Hunger...

Cramer: Das Hungergefühl wird bei sehr vielen Menschen durch den Blutzucker bestimmt. Werden viele Kohlenhydrate verzehrt, dann schwankt der Blutzucker im Tagesverlauf sehr stark und diese Schwankungen treiben den Hunger. Daher sind viele Menschen nur eine Stunde nach dem Essen bereits wieder hungrig. Eben weil sie morgens ein weißes Brötchen oder andere industriell verarbeitete Produkte mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten gegessen haben. Wenn sie das nicht machen, ist der Blutzucker stabil und das Hungergefühl ist deutlich geringer. Außerdem isst man im Rahmen einer Low Carb-Ernährung auch mehr Fett oder mehr Eiweiß und das führt zu einer anderen Verstoffwechselung der Nahrung. Der Magen ist länger voll, er braucht länger, um zu verdauen und ein voller Magen unterdrückt das Hungergefühl. Deswegen, um Ihre Frage zu beantworten, ist eher das Gegenteil der Fall: Sie haben bei einer kohlenhydratreduzierten Ernährung eher weniger Hunger.

Was passiert, wenn die Menge der Kohlenhydrate drastisch reduziert wird?

Cramer: Man muss es langsam angehen, der Körper muss sich langsam umstellen. Kohlenhydrate sind schnell verfügbar, der Körper kann sie superschnell verstoffwechseln und bekommt schnell Energie. Aber sie geht eben auch schnell verloren. Es gibt auch Menschen, die können problemlos große Mengen Kohlenhydrate essen, jeder von uns kennt so jemanden. Diese Menschen essen massenhaft Brot und Schokolade und werden nie Übergewichtig. Da gibt es natürlich keine Notwendigkeit, die Ernährung umzustellen. Es gibt aber eben auch die, die entweder krank und/ oder Übergewichtig sind, Diabetes haben oder sich schlicht nicht wohlfühlen. Da wird deutlich, dass es eine Gruppe gibt, die auf Kohlenhydrate empfindlich reagiert. Wenn man dann weniger davon zu sich nimmt, fängt der Körper an, sich umzustellen. Auch der Stoffwechsel stellt sich um und verbrennt weniger oder er stellt ganz um: Von Kohlenhydratauf Fettverbrennung.

Sie sagten, bei dieser Ernährungsweise muss man mehr Eiweiß und Fett zu sich nehmen. Gerade Fett hat keinen guten Ruf.

Cramer: Ja, völlig zu Unrecht. Ein Beispiel: Sportler brauchen viel Energie für eine lange Zeit, so wie beim Ausdauersport, dazu nutzt der Körper zunächst gespeicherte Kohlenhydrate. Muskeln und Leber sind die Hauptorgane, in denen diese gespeichert werden. Das ist individuell unterschiedlich, aber es sind nicht mehr als 700 - 800 Kilokalorien, die der Körper in Form von Kohlenhydraten speichern kann. In Form von Fett kann er 30.000 Kilokalorien und mehr speichern. Wenn ich also lange Energie brauche, ist es deutlich effizienter, auf die Fettverbrennung zurückzugreifen. Fett ist ein sehr guter Energieträger, wenn der Körper in der Lage ist, es zu verstoffwechseln. Wenn jemand eher auf Fett-Speicherung programmiert ist, zum Beispiel durch genetische Veranlagung, eine Erkrankung oder suboptimale Ernährung, dann muss das wieder individuell betrachtet werden. Aber der schlechte Ruf des Fettes ist völlig unverdient, es kann große Dienste in der Ernährung leisten.

Brauchen wir Kohlenhydrate Überhaupt?

Cramer: Kohlenhydrate sind nicht essenziell, also lebensnotwendig. Kein Mensch muss sie essen. Fett und Eiweiß dagegen sind absolut lebensnotwendig. Niemand kann ohne Eiweiß- und Fettzufuhr Überleben, aber ohne Kohlenhydrate schon. Es gibt heute noch Naturvölker, die sich nahezu komplett ohne Kohlenhydrate ernähren, beispielsweise die Massai in Afrika oder früher auch Eskimos.

Wenn man davon ausgeht, gesund zu sein, macht dann eine Low Carb-Ernährung Überhaupt Sinn?

Cramer: Wenn jemand gesund ist, würde ich immer denken: Lass es laufen. Es gibt aber auch Menschen, die nicht wissen, dass sie stoffwechselkrank sind. Sie fühlen sich gut, sind schlank, aber das heißt noch lange nicht, dass der Stoffwechsel gesund ist. Vielleicht gibt es eine familiäre Belastung für Zuckerkrankheit oder Bluthochdruck, dann lieber mal testen lassen. Und vielleicht auch mal vom Hausarzt einen Ultraschall der Leber machen lassen, um zu prüfen, ob sie nicht verfettet ist, auch wenn man schlank ist.

Welche Ergebnisse konnten Sie mit Ihrem Forschungsteam bisher erzielen?

Cramer: Der Hauptteil unserer Patienten sind Frauen mit dem PCOS, dem polyzystischen Ovarialsyndrom (Anm. Hormonstörung, die bis zu 15 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter betrifft). Damit fing die Idee zur Sprechstunde an. Dieses Syndrom ist vielschichtig, weil es viele verschiedene Symptome haben kann. Viele der betroffenen Frauen sind durch die Erkrankung unfruchtbar und haben unter Umständen schon sehr häufig versucht, schwanger zu werden. Als Internist arbeite ich eng mit den Gynäkologinnen und Gynäkologen unseres Hauses zusammen. Wir hatten mehrere PCOS-Patientinnen, die innerhalb von drei Monaten nach einer Ernährungsumstellung schwanger geworden sind. Das war für alle Beteiligten sehr emotional.

Woher kommt Ihre Liebe zum Thema Ernährung?

Cramer: Ich habe Neurodermitis, hatte als Kind Ekzeme und darunter sehr gelitten, weil ich gehänselt wurde. Unser Kinderarzt hat meiner Mutter damals die Empfehlung gegeben, auf Milchprodukte zu verzichten, damit fing es für mich an. Und dann hatte die Mutter meiner ersten Freundin Rheuma und sehr gute Erfahrung mit einer Ernährungsumstellung gemacht. Sie hat kein Fleisch mehr gegessen, nur Rohkost und das hat ihr sehr geholfen. Die Gelenkbeschwerden waren viel besser und das war für mich ein Aha-Erlebnis. Ich habe mich später gefragt, wieso ich über solche Zusammenhänge im Studium nicht mehr gelernt habe. Letztlich habe ich selber ein wenig experimentiert, mit anderen gesprochen und so langsam ein Netzwerk aufgebaut. Es gibt auch in anderen Kliniken Kolleginnen und Kollegen, die eine tolle Expertise haben. Wir haben auch ein sehr gutes Ernährungsteam hier am Uniklinikum, das neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen ist.

Wie sieht es mit gesunder Ernährung bei Kindern aus?

Cramer: Da sollten wir unbedingt drauf achten, die Fettlebererkrankung ist mittlerweile die häufigste chronische Lebererkrankung im Kindesalter. Das ist ein komplettes Desaster. Wir haben inzwischen 14- bis 16-Jährige mit Typ 2 Diabetes - das haben wir früher Altersdiabetes genannt. Da muss sich die Gesellschaft deutlich weiterentwickeln, damit das besser verstanden und letztlich effektiv verhindert werden kann. Diese Kinder sind ihr Leben lang krank, das ist für sie und auch für die betroffenen Familien eine Katastrophe und auch moralisch und ethisch für die Gesellschaft.

Was können wir denn tun, um unsere Kinder an gesundes Essen heranzuführen?

Cramer: Dafür sorgen, dass das Thema in den Schulen besser und lebensnaher besprochen wird. Ich gehe beispielsweise in Schulen und halte Vorträge. Wir sollten den Kindern allerdings auch nicht die Lust am Essen durch zu viele Vorschriften vermiesen. Natürlich ist es für mich auch nicht immer schön, dass unsere Kinder meist Nudeln, aber kein Gemüse essen wollen, aber das kommt irgendwann. Und vielleicht denkt man auch mal darüber nach, dass es nicht gesund ist, jeden Tag Süßes zu essen. Wir müssen vorsichtig aufklären, über die richtige Ernährung, aber auch die Bedeutung von Bewegung. Kinder bewegen sich heutzutage viel zu wenig. Wir als Eltern sind gefragt, Alternativen zur Mediennutzung zu schaffen.

Wie können wir uns gesünder ernähren?

Cramer: Wenn man die finanziellen Möglichkeiten hat, dann würde ich immer sagen: Naturbelassen, selber kochen, keine industriell hergestellte Ernährung, wenig Süßigkeiten und wenig Zucker - Selbstverständlich darf ich ein Stück Kuchen essen, aber bitte nicht jeden Tag. Dann ist es natürlich sinnvoll, frische Produkte und Gewürze zu benutzen. Auch Salz ist nicht der große Killer, als der es oft beschrieben wird - wenn ich mit Verstand salze, selber koche und keine Fertigprodukte zu mir nehme, dann ist das kein Problem.

Was könnte noch helfen?

Cramer: über das Thema mit gesundem Menschenverstand nachzudenken und einfach mal auf sich selber zu hören. Man darf ruhig Vertrauen in den Körper und die eigene Urteilsfähigkeit haben. Auch der Austausch mit Familie, Freunden und Lebenspartnern hilft. Schwieriger ist es bei Büchern oder digitalen Ratgebern: Es gibt leider mehr schlechte als gute.

Welche Rolle spielt der Klimawandel Ihrer Meinung nach beim Thema Ernährung?

Cramer: Natür lich müssen wir darauf Rücksicht nehmen. Meiner Meinung nach sind tierische Produkte ein Teil der gesunden Ernährung, es kommt immer darauf an, wie groß dieser Teil ist und wie ethisch vertretbar es für mich ist, das zu essen. Natürlich fallen da mehr Treibhausgase an, als bei einer veganen Ernährung. Das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft, die entscheidenden Weichen müssen von der Politik gestellt werden.

Auch nur noch Bio-Fleisch zu essen, ist nicht so einfach - das muss man sich auch leisten können. Zudem reden wir über komplexe Zusammenhänge in der Landwirtschaft wie Viehhaltung, Futtermittelanbau, Gülle und auch CO2-Speicherungen in den Pflanzen. Das sind alles Dinge, die über Jahrtausende entstanden sind. Wenn man da jetzt eingreift, dann muss man sich schon sicher sein, das Richtige zu tun. Es kann sein, dass neue Probleme entstehen, die muss man dann auch offen ansprechen. Das heißt, es braucht eine gewisse Offenheit.

Was wünschen Sie sich noch?

Cramer: Ich wünsche mir Offenheit von den Fördermittelgebern, damit Gelder für Studien vergeben werden, die die Ernährungsmedizin entscheidend weiterbringen. Außerdem sollten wir uns den Dingen wirklich unvoreingenommen stellen und über den Zusammenhang zwischen dem Konsum von Eiern, Butter oder rotem Fleisch und verschiedenen Erkrankungen wie Dickdarmkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen recherchieren. Das sind größtenteils schwache Daten, die Überinterpretiert werden. Da wünsche ich mir mehr Offenheit und mehr Fähigkeit, zu differenzieren. Auch sollten wir uns selber hinterfragen. Nach dem Motto ,,Ich habe jetzt zwar dreißig Jahre lang geglaubt, dass das so ist, aber jetzt schaue ich mir das noch mal genauer an". Denn eventuell habe ich mich geirrt. Wissenschaft ist eben nicht in Stein gemeißelt. Das aktuelle Wissen von heute kann morgen schon wieder Überholt sein, da muss man beweglich bleiben.

Ernährung hat, wie eben gehört, Einfluss auf den Verlauf von Krankheiten wie Krebs oder Demenz. Auch auf die Entstehung dieser Krankheiten?

Cramer: Meiner Einschätzung und Erfahrung nach eindeutig ja. Aber auch hier sind nicht alle Menschen gleichermaßen betroffen, auch hier gibt es große individuelle Unterschiede bezogen auf die Empfindlichkeit gegenüber negativen Einflüssen der Ernährung. Viele Zivilisationskrankheiten haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Wir wissen leider nicht genau, woran das liegt. Neben der Ernährung werden Umweltverschmutzung, zunehmende körperliche Inaktivität und soziale Faktoren wie zum Beispiel zunehmende Einsamkeit als Ursachen diskutiert. Ich halte diese Hypothesen für vernünftig und kann mir gut vorstellen, dass sich die Kombination dieser Faktoren negativ auf die Gesundheit vieler Menschen auswirken kann. Aber auch hier gilt, wir brauchen sinnvoll durchdachte und gut durchgeführte Studien, um diese zentral wichtigen Fragen klären zu können.