Einem großen Denker auf der Spur

Scan einer Leibniz-Handschrift © Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersä
Scan einer Leibniz-Handschrift © Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek Hannover
Die Moderne mit ihrer Industrialisierung, Technisierung und Globalisierung hat der Welt viele Errungenschaften beschert. Möglich macht(e) das unter anderem kollektive wie individuelle Spezialisierung. Zu den Verlusten dieser Entwicklung gehört das Aussterben der Universalgelehrten - vielbegabter Alleskenner. Einer der Letzten seiner Art war Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716). Er vollbrachte Großes in der Mathematik und Philosophie, war außerdem Naturwissenschaftler, Historiker, Jurist und Linguist.

Trotz seines Ablebens vor mehr als 300 Jahren gibt es noch viel zu erfahren über den in Leipzig geborenen Hannoveraner. Dass dies noch immer in großem Stil möglich ist und die Leibnizforschung lebt, beweist ein Besuch des fünften Stockwerks des am Domplatz gelegenen Philosophikums. Die dort ansässige Leibniz-Forschungsstelle der WWU ist im besten Sinne ein wahres Kuriosum der münsterschen und deutschsprachigen Akademienlandschaft. Ihre Gründung, ihre Verbindung zur WWU und anderen Hochschulen ist dabei fast so komplex wie ihre Arbeit selbst.

Gegründet wurde die Forschungsstelle 1956 vom Philosophen Erich Hochstetter (1888 - 1968). Das Ungewöhnliche war, dass Münster damals über keinerlei Leibniz-Handschriften verfügte - und es bis heute nicht tut. Denn wenn auch über Archive und Bibliotheken in Europa verstreut, lagert doch der weitaus größte und zentrale Teil des handschriftlichen Nachlasses von Leibniz in der heute nach ihm benannten "Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek" in Hannover. Seit 1921 hatte Erich Hochstetter mit einer festen Stelle an der Leibniz-Edition der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin mitgearbeitet. Als diese Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast zum Erliegen gekommen war, konnte der inzwischen zum außerplanmäßigen Professor für Philosophie in Münster berufene Erich Hochstetter seine Erfahrungen einbringen und von hier aus die Editionsarbeiten zu Leibniz neu beleben und koordinieren. Die Leibniz-Forschungsstelle in Münster wurde damit zu einem ersten und entscheidenden Zentrum der Fortführung der Leibniz-Edition nach dem Krieg, bis nach und nach weitere Arbeitsstellen in Hannover, Potsdam und Berlin gegründet wurden.

Herausgebende Institutionen der acht Reihen umfassenden Edition sind Einrichtungen in Berlin und Potsdam (getragen von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) sowie in Hannover und Münster (getragen von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen). Die personelle Ausstattung der hiesigen Leibniz-Editionsstelle wird von Göttingen getragen, die Infrastruktur stellt die WWU. "Wir sind dankbar dafür, dass uns die WWU in unserem Vorhaben unterstützt und freuen uns über die enge Kooperation im Bereich Forschung und Lehre mit dem Philosophischen Seminar wie auch anderen Einrichtungen der Universität Münster", unterstreicht der Forschungsstellenleiter Stephan Meier-Oeser.


Leibniz’ handschriftlicher Nachlass, von dem ein Teil, nämlich sein Briefwechsel, zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehört, ist gewaltig: etwa 100.000 Blatt an Schriften und circa 15.000 Briefe von dem und an den Denker. Zu den etwa 1200 Korrespondentinnen und Korrespondenten gehörten zahlreiche Angehörige des europäischen Adels beiderlei Geschlechts - Leibniz pflegte besonders einen freundschaftlichen Umgang mit einer Reihe von Fürstinnen und Prinzessinnen. Die schiere Menge an Schriftstücken und ihre Beschaffenheit erklären, warum mehrere Einrichtungen bereits seit 1901 an der Gesamtedition arbeiten. Es ist das am längsten laufende Editionsvorhaben in Deutschland. "Es ist ein buchstäbliches Jahrhundertprojekt, das aufgrund seiner Komplexität und mancher Gefahren des 20. Jahrhunderts immer wieder um sein Überleben kämpfen musste", erklärt Stefan Lorenz, Philosophiehistoriker und seit 19 Jahren Mitarbeiter der Forschungsstelle.

In Münster arbeiten die Forscher mit Scans und Kopien der Originale. Die von Leibniz verfassten Briefentwürfe, die sogenannten Konzepte, sind dicht beschrieben, die Handschrift schwer zu entziffern, durchzogen von Streichungen, Verweisen, Einfügungen, Pfeilen, Trennlinien - hier und da gesprenkelt mit Kirschsaftflecken oder anderen Unreinheiten. Alles, was die Mitarbeiter auf einer Seite finden, also auch die als Varianten bezeichneten durchgestrichenen Passagen, entziffern sie und nehmen es in ihre Edition auf. In Münster erscheinen die Reihen II "Philosophische Briefwechsel" und VI "Philosophische Schriften" der "Sämtlichen Schriften und Briefe" Leibniz’. Etwa alle vier Jahr geben sie einen neuen Band heraus. "Ein Mitarbeiter kann pro Jahr circa 100 Druckseiten fertigstellen - Ausdauer ist also gefragt", erklärt Stefan Lorenz. Da von der mühevollen Arbeit nicht nur ein kleiner Kreis von Leibniz-Experten profitieren soll, stehen sämtliche Veröffentlichungen auch kostenfrei als "Open Access" zur Verfügung.

Nur wenige Schriftstücke verfasste Leibniz auf Deutsch, er bediente sich anfangs vor allem der lateinischen, später vermehrt der französischen Sprache. Dadurch ist die Arbeit der münsterschen Wissenschaftler auch eine linguistische. Auf technischer Seite brauchen sie gute allgemeine Kenntnisse der Handschriftenkunde und spezielle zu Leibniz’ Handschrift. Sie müssen findig, hingebungsvoll und mit einem großen Spürsinn an ihre Arbeit gehen. Fast wie Detektive oder Archäologen suchen sie nach Spuren - etwa nach Wasserzeichen, die eine Papiermühle vor mehr als 300 Jahren auf den Papierbogen auftrug und die heute dabei helfen können, eine undatierte Schrift zeitlich einzuordnen. Inhaltlich verlangt die Arbeit in der Forschungsstelle große Kenntnisse über die bisherige Forschung zu einem Text, über seinen Kontext, beispielsweise im Hinblick auf die Philosophieund Profangeschichte des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Denn die Wissenschaftler Übertragen nicht nur die Wörter, die Leibniz einst niederschrieb, sie kommentieren und erläutern das Geschriebene. Dadurch entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht, bestehend aus abgefasstem Originaltext, einordnenden Passagen, Verweisen zu Korrespondenzen und bereits erfolgter Forschungsarbeit. Um das bewältigen zu können, müssen die Mitarbeiter schließlich ein spezielles Textverarbeitungsprogramm beherrschen, das der Nachfolger von Erich Hochstetter, Heinrich Schepers in Münster einführte. Mit Hilfe dieses Instrumentes gelingt die Herstellung des komplizierten und aufwändigen Drucksatzes der Editionsbände, der ebenfalls von der münsterschen Arbeitsstelle geleistet wird. Damit hatte Münster bereits früh Anteil an den heute vielberufenen "Digital Humanities".


Die intensive Beschäftigung mit den Schriften verrät so manches Detail aus dem Alltagsleben des Universalgelehrten. So war sein Lieblingsgetränk Kirschsaft, Rotwein vertrug er aufgrund seiner Magenprobleme nicht und eine Feier zur Gründung der Berliner Akademie war derart exzessiv, dass er im Anschluss daran eine mehrwöchige Reha antreten musste. So banal wie solche Aussagen auch erscheinen mögen, verraten sie doch auch immer wieder etwas über Leibniz’ Ideen und Denkweisen. Einen Hinweis auf seinen geliebten Milchkaffee am Morgen nutzte er dazu, seine Substanztheorie zu erklären, mit der er die (metaphysische) Zusammensetzung der Welt erklären wollte.

Vor allem aber eröffnet die Arbeit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsstelle Einsichten in die europäische Kulturgeschichte und damit in unser eigenes Selbstverständnis. "Wir lernen durch Leibniz’ Schriftverkehr als Monument der Ideengeschichte unglaublich viel über die Demokratieund Wissenschaftsgeschichte, über Rechtsstaatlichkeit und Teilhabe, Pazifismus und Völkerrecht, über Moral und den Wert des Individuums", erklärt Stefan Lorenz. "Leibniz hat zeitlebens als Sachwalter des Allgemeinwohls, des bonum commune gearbeitet." In der Leibniz’schen Tradition leistet die Forschungsstelle Aufklärungsarbeit und zeigt auf, welche Werte und Ideen die moderne Gesellschaft geerbt hat - sie muss sie nur nutzen zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Die Forschungsstelle am Domplatz will diese Arbeit noch mehrere Jahrzehnte fortführen, weshalb sie sich auch um den wissenschaftlichen Nachwuchs kümmert: Seit dem 1. November arbeitet sich eine promovierte Wissenschaftlerin als Trainee in die komplexen Editionsroutinen ein und beginnt, an der Edition mitzuarbeiten.

Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien in der Unizeitung wissen