Die Vorfreude ist ihm von Beginn an anzumerken: Er werde den Domplatz aus einer neuen Perspektive zeigen, hatte Reinold Schmücker versprochen. Auf dem nicht ausgebauten Dachboden des denkmalgeschützten Altbaus, der dem neuen Philosophikum in Richtung Osten das alte Gebäudegesicht gibt, deutet er Ideen an, was aus diesem bisher ungenutzten Ort noch werden könnte: ein Seminarraum und einige Büros vielleicht oder ein neues Domizil für Atelier und Lehrsammlung des Instituts für Kunstgeschichte. "Sein" Philosophikum würde er das Gebäude wohl nicht nennen, doch ist er dort seit vielen Jahren engagierter Hausverantwortlicher: "Das geht natürlich nur, weil meine Mitarbeiterin mich stark entlastet." Seine Mitwirkung an der Beschreibung der Bauaufgabe "Philosophikum der WWU" sei aber womöglich seine größte Leistung für die Uni gewesen, erklärt der Philosoph und lacht. So verwundert es nicht, dass er gerne über die Architektur und die Nachbarschaft des Gebäudes am Domplatz spricht.
In jungen Jahren zeichnete sich nicht ab, dass er ein berufsmäßiger Philosoph werden würde. Mit 14 Jahren wollte Reinold Schmücker, aufgewachsen in Herdecke an der Ruhr, Chemiker werden. Mit seiner Neugier und Experimentierfreude setzte er allerdings den Teppich des Jugendzimmers in Brand. Deshalb verlegte er sich nach dem Abitur auf etwas, was weniger mobiliargefährdend war - er wurde hauptberuflich Denker. Dafür ging er nach dem Zivildienst zunächst nach Tübingen, studierte, da er sich für Sprache, Begriffe und komplexe Sachverhalte interessierte, Philosophie, Germanistik und Evangelische Theologie. Philosophie, sein Hauptfach, war ihm an der dortigen Uni allerdings zu "altbacken und autoritär", weshalb er nach der Zwischenprüfung an die Universität Hamburg wechselte. "Dort habe ich die Philosophie neu entdeckt und in diesem Fach promoviert", erklärt er.
Heute ist Reinold Schmücker nicht nur Universitätsprofessor und Dekan, er ist seit Januar 2022 auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. "Das, was ich mache, will ich gut machen, insofern bin ich wohl ehrgeizig", räumt er ein. In der Wissenschaft komme es aber nicht nur auf Ausdauer und Fleiß an. Genauso wichtig sei die Fähigkeit, "es sich selbst einzugestehen, wenn man in eine Sackgasse geraten ist". Ein guter Philosoph müsse, wenn er sich geirrt habe, den geordneten Rückzug antreten und sich selbst korrigieren können, denn in der Philosophie komme es letztlich immer auf das bessere Argument an.
Zufall und Glück seien bei seinem wissenschaftlichen Werdegang immer wieder im Spiel gewesen. Bewerbungen auf Redakteursstellen bei Zeitungen und als Verlagslektor blieben erfolglos; eine Fahrstuhlfahrt bescherte ihm die Promotionsstelle. Es gab aber auch Phasen, in denen es nicht nach einer erfolgreichen Universitätskarriere aussah. Die Promotion abgeschlossen habe er mit einem "Stipendium der Arbeitsagentur", erzählt er mit gut verdeckter Ironie. "Außerdem kann ich schlecht Nein sagen." Einmal musste er das allerdings tun: Nach viereinhalb Jahren als Gründungsgeschäftsführer des "Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald" bewarb er sich auf Professuren - und erhielt Überraschend ("ich hatte sehr viel Glück") sowohl von der WWU als auch von der RWTH Aachen einen Ruf. Das Nein bekam die letztere, sodass Reinold Schmücker seit 2009 Professor am Philosophischen Seminar in Münster ist.
Der 58-Jährige rechnet sich keiner philosophischen Schule zu, als philosophischer Eklektiker arbeite er nach dem Motto: "Leset und prüfet vieles, und das Beste behaltet." Den Anlass dazu geben ihm meistens Fragen, auf die er Antworten sucht: 29 seiner Publikationen tragen Titel, die mit einem Fragezeichen enden. Neben aller philosophisch-solitären Kontemplation und allen Anforderungen an einen Dekan mag Reinold Schmücker seinen Beruf aber auch deshalb, weil die Philosophie "Menschen zum Nachdenken über das menschliche Weltund Selbstverhältnis motiviert" - und so oft genug auch den Hochschullehrer zu kritischer Selbstbefragung zwingt.
Auch künftig wird Reinold Schmücker die Welt befragen: privat auf Wanderungen mit der Kamera durch die Berge, beruflich unter anderem als Co-Sprecher einer neuen Kollegforschungsgruppe zum Thema "Zugang zu kulturellen Gütern im digitalen Wandel: Kunstwissenschaftliche, kuratorische und ethische Aspekte", die die DFG just in der vergangenen Woche bewilligte. Gemeinsam mit Ursula Frohne wird er in dieser Gruppe danach fragen, wer unter welchen Bedingungen Zugang zu kulturellen Gütern haben sollte oder muss. "Interdisziplinarität braucht mehr Zeit als strikt disziplinäre Forschung. Deshalb ist ein Kolleg dafür ideal."
Bei allen philosophischen Vorhaben ist Reinold Schmücker sich aber im Klaren, dass jede Erkenntnis nur vorläufig ist. Diese Einsicht in sokratischer Tradition ("Ich weiß, dass ich nicht weiß") zwinge die Philosophie zur Bescheidenheit. Reinold Schmücker strahlt diese Bescheidenheit aus - und scheint mit seinem Los zufrieden zu sein, ein berufsmäßiger Nachdenker, Fragensteller und Hausverantwortlicher zu sein.
André Bednarz
Dieser Text stammt aus der Unizeitung wissen
Aus dem Leben eines Fragenstellers
Advert