Das Rätsel des anomalen magnetischen Moments des Myons

Neue Berechnungen auf Basis fundamentaler Theorien weichen vom bisherigen Theoriewert ab

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Die numerischen Simulationsverfahren zur Berechnung von hadronischen Beiträgen zum anomalen magnetischen Moment des Myons werden mit Supercomputern wie dem Hochleistungsrechner MOGON II an der JGU berechnet.

Das anomale magnetische Moment des Myons ist eine wichtige Präzisionsgröße, um das Standardmodell der Teilchenphysik zu testen. Im letzten Jahr sorgte eine neue Messung für Aufsehen, da sie eine beträchtliche Abweichung zur theoretischen Vorhersage bestätigte: Das anomale magnetische Moment ist größer als erwartet.

Die theoretische Vorhersage berechnen Physikerinnen und Physiker auf Basis des aktuell gültigen Standardmodells der Teilchenphysik. Im Jahr 2020 hatte sich die "Myon g-2 Theorie-Initiative" - ein Zusammenschluss von 130 Physikerinnen und Physiker mit starker Mainzer Beteiligung - auf einen Wert verständigt, der seither die Bezugsgröße ist. Nun haben mehrere Gruppen, darunter die Gruppe von Hartmut Wittig vom Exzellenzcluster PRISMAan der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), neue und präzisere Berechnungen des Beitrags der starken Wechselwirkung auf Basis von Gitter-QCD-Rechnungen vorgelegt und veröffentlicht. Im Ergebnis scheint sich der theoretische Wert dem Experiment anzunähern. "Wenn die Lücke zwischen theoretischer Vorhersage und Experiment tatsächlich kleiner ausfallen sollte, wäre das immer noch eine deutliche Abweichung", ordnet Hartmut Wittig das Ergebnis ein. "Zunächst müssen wir aber vor allem verstehen, warum verschiedene theoretische Ansätze unterschiedliche Ergebnisse liefern."

Es gibt etwas Neues zu verstehen

Mit Ausnahme der Schwerkraft tragen alle fundamentalen Wechselwirkungen zum anomalen magnetischen Moment des Myons bei. Die starke Kraft, die zwischen den elementaren Bausteinen der Materie, den Quarks, wirkt und durch Gluonen als Austauschteilchen vermittelt wird, ist besonders wichtig, um das Standardmodell zu testen. Sie trägt unter anderem in Form der hadronischen Vakuumpolarisation (HVP), bei der Quark-Antiquark-Paare ständig für Sekundenbruchteile aus dem Vakuum entstehen und wieder verschwinden, zum Magnetismus des Myons bei. "Sie ist allerdings extrem komplex und die Unsicherheit der theoretischen Vorhersage wird daher von den Effekten der starken Wechselwirkung dominiert", erklärt Wittig. Da die gängigen Rechenmethoden entweder nicht anwendbar sind oder bisher nicht genau genug waren, wurde der Beitrag der hadronischen Vakuumpolarisation in dem aktuellen Konsenspapier unter Zuhilfenahme experimenteller Daten bestimmt, die an verschiedenen Beschleunigern gemessen wurden.

Idealerweise möchte man hadronische Beiträge wie die HVP auf Basis der fundamentalen Theorie der Quantenchromodynamik (QCD) berechnen. Dieser Ansatz kommt vollkommen ohne experimentelle Daten aus, benötigt aber ein Rechenverfahren, das die starke Wechselwirkung mathematisch exakt bei niedrigen Energien beschreiben kann. Dazu greifen die Mainzer Wissenschaftler auf die Gitterfeldtheorie zurück. Ähnlich wie in einem Kristall verteilen sie die Quarks auf die Punkte eines Raum-Zeit-Gitters. Mit numerischen Simulationsverfahren lassen sich dann die hadronischen Beiträge zum anomalen magnetischen Moment des Myons mit Supercomputern berechnen.

"Noch bis vor wenigen Jahren waren Gitter-QCD-Rechnungen aufgrund der hohen technischen Herausforderungen nicht in der Lage, die hadronischen Beiträge mit der nötigen Genauigkeit zu berechnen. Inzwischen haben wir große Fortschritte erzielt und die Methode soweit verfeinert, dass sie hinsichtlich der Präzision mit dem Ansatz, der auf experimentelle Daten zurückgreift, mithalten kann", erklärt Wittig. In dem nun veröffentlichten Artikel rechnen die Wissenschaftler einen Teil der hadronischen Vakuumpolarisation aus, der sich hervorragend dazu eignet, die Konsistenz verschiedener Gitterrechnungen untereinander zu prüfen und mit dem Ergebnis der traditionellen Methode unter Zuhilfenahme experimenteller Daten zu vergleichen. "Da unser Ergebnis genauso präzise wie die klassische Methode ist, können wir sagen, dass Gitter-QCD-Rechnungen inzwischen ihre Feuertaufe bestanden haben. Das allein ist ein enormer Erfolg. Zudem verdichten sich die Hinweise, dass die Berechnung auf Basis der QCD in der Tat mit den kürzlich vorgestellten Ergebnissen anderer Gruppen Übereinstimmen."

Doch zurück zum anomalen magnetischen Moment des Myons: "Durch die neuen Gitter-Rechnungen verdichten sich die Hinweise, dass der Wert der theoretischen Vorhersage dichter an den gemessenen Wert heranrücken könnte. Das hat in Fachkreisen für großes Aufsehen gesorgt", berichtet Wittig. "Der Fokus liegt nun vor allem auf der Frage, warum unterschiedliche Rechenmethoden unterschiedliche Ergebnisse liefern. Aber auch die Abweichung zwischen Theorie und Experiment verschwindet mit den neuen Rechnungen ja nicht. Egal wie man es betrachtet: Wir kommen nicht um die Tatsache herum, dass es eine erklärungsbedürftige Diskrepanz beim anomalen magnetischen Moment des Myons gibt. Für uns gibt es da noch viel Neues zu verstehen."