’Wir müssen den Studierenden vor allem Kompetenzen vermitteln’

Studiendekan Bernd Marschall über den Wandel des Medizinstudiums

Das Foto zeigt eine Gruppe von Studierenden. Sie tragen Kopfhörer und beobachten
Das Foto zeigt eine Gruppe von Studierenden. Sie tragen Kopfhörer und beobachten die Behandlung eines Patienten. © UKM - Erk Wibberg
Das Wissen in der Medizin wächst jeden Tag. Umso wichtiger ist es, sich im Studium nicht nur Fakten anzueignen, sondern auch Strategien, mit den vielen Informationen umzugehen und neue Erkenntnisse in der Praxis zu nutzen. Im Interview mit Tim Stelzer schildert Bernd Marschall, Studiendekan und Direktor des Instituts für Ausbildung und Studienangelegenheiten, worauf es heute im Medizinstudium ankommt.

Wenn Sie Ihr eigenes Medizinstudium mit den heutigen Studienbedingungen vergleichen - was sind die wichtigsten Unterschiede?

Die Situationen damals und heute unterscheiden sich vor allem mit Blick auf die Rahmenbedingungen. Wir sind damals in den Zeiten eines Ärzte-Überschusses gestartet, heute haben wir einen vermeintlichen Ärztemangel. Wir mussten schon während des Studiums beweisen, dass wir jobfähig sind. Fast alle Kommilitonen haben nebenbei gearbeitet, um ihre Aussichten auf eine Anstellung zu erhöhen.

Hat sich denn auch die Stoffmenge verändert?

Deutlich. Wir gehen in der Medizin von einer Halbwertszeit des medizinischen Fachwissens von fünf Jahren aus. Das heißt, nach fünf Jahren ist das, was wir gelehrt haben, nur noch die Hälfte wert. Das Studium dauert sechs Jahre. Das bedeutet, dass wir den Studierenden gar nicht alles beibringen können. Wir müssten uns noch viel mehr darauf verständigen, was sie wirklich brauchen, um in diesem Job zu bestehen. Historisch betrachtet, kommen wir aus einer Zeit der Vermittlung von Wissen - heute geht es dagegen mindestens genauso intensiv um die Vermittlung von Kompetenzen. Das Ziel des Studiums sollte darin bestehen, dass unsere Absolventinnen und Absolventen am Ende nicht denken, fühlen und handeln wie, sondern als ein Arzt.

Es gibt in Deutschland zahlreiche Standorte für ein Medizinstudium. Welche Aspekte zeichnen Münster aus?

Unsere Konzeptidee lautet: Wertschöpfung durch Wertschätzung, beispielsweise durch ein gutes Betreuungsverhältnis und eine intensive Lehrevaluation. Außerdem haben wir im klinischen Studienabschnitt ein modularisiertes Reformcurriculum. Das bedeutet, dass der Dozent nicht einfach seinen Stoff runtererzählt, ohne nach links und rechts zu gucken. Wir haben stattdessen unter dem Aspekt eines lebenslangen Lernens Module geschaffen, die thematisch vernetzt sind. Zum Beispiel zum Thema Herz-Kreislauf: In diesem Fall kommen der Kardiologe, der Kardiochirurg, aber auch der Allgemeinmediziner und der Pathologe zusammen. Wir wollen die bestmöglichen Rahmenbedingungen schaffen; damit locken wir nicht nur die bestmöglichen Studierenden zu uns, wir bekommen auch die bestmöglichen Ergebnisse. Und das ist natürlich befruchtend. Ich freue mich immer wieder, wenn Dozenten von auswärts sagen, dass sie ihre Vorlesung anpassen mussten, weil wir in Münster auf ein besonderes Niveau achten.

Beinhaltet das auch eine möglichst gute Praxisorientierung?

Der Praxisbezug ist überall in Deutschland ein schwieriges Thema. Aber mit unserem Studienhospital und dem Lernzentrum ,Limette’ bieten wir unseren Studierenden einzigartige und sehr realitätsnahe Möglichkeiten - zusätzlich zu dem, was am Patientenbett stattfinden sollte.

Wird die künstliche Intelligenz (KI) auch das Medizinstudium verändern?

Digitalisierung war schon immer eines unserer Aushängeschilder. Wir haben beispielsweise früh auf eine digitale Studienorganisation gesetzt, etwa eine App, über die die Studierenden ihren Stundenplan und ihre Leistungsverweise verwalten. Außerdem können die Studierenden alle Vorlesungen auch digital aufrufen. Sie müssen in ihrem Stundenplan nur die entsprechende Stunde aufrufen - und schon sind sie online dabei. Sie können sich dabei aktiv an der Diskussion beteiligen. Letztes Stichwort: Virtual Reality (VR). Die versetzt uns in die Lage, Dinge zu lehren, die wir bisher nicht lehren konnten, zum Beispiel die Hirntod-Diagnostik. Denn einen Hirntod kann man nicht simulieren, auch nicht als Schauspieler. VR ist eine wichtige Zukunftstechnologie.

Sie bewerten KI-Systeme nicht so kritisch wie manch andere?

Ich bin oft erstaunt über diese Diskussionen. Ähnliche Diskussionen gab es auch früher, als man beispielsweise befürchtete, dass die Schüler das Rechnen wegen der neumodischen Taschenrechner verlernen könnten. KI kann uns in der Medizin enorm helfen. Natürlich müssen wir darauf achten, dass wir sie sinnhaft nutzen. Wir müssen sie als Werkzeug einsetzen - wie den Taschenrechner, wie das Lineal und sonstige Hilfsmittel. Das wird unseren Beruf maßgeblich verändern.

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft des Medizinstudiums?

Die wesentliche Frage wird sein: Wie können wir bei einer immer kommerzielleren Krankenversorgung und einer sich immer mehr separierenden, also von der Krankenversorgung entfernenden Forschung eine Lehre liefern, die unseren Ansprüchen genügt? Das war immer schon eine Herausforderung, aber die Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren erneut verschärft.

Was empfehlen Sie jungen Menschen, die sich für ein Medizinstudium interessieren?

Jeder sollte sich überprüfen, ob er auf dem richtigen Weg ist - und wer die Lotsen auf diesem Weg waren. Studiere ich Medizin, weil ich die passende Note dafür hatte? Studiere ich Medizin, weil meine Eltern Ärzte waren? Studiere ich Medizin, weil ich irgendwas Tolles darüber gelesen habe? Oder studiere ich Medizin, weil ich wirklich dafür brenne? Letzteres ist jedenfalls die beste und schönste Motivation.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen