Ein medizinhistorischer Gastbeitrag von Peter Hucklenbroich
Schmerz ist ein allgemein-menschliches Phänomen und daher in allen Kulturen und Epochen bekannt. Unterschiedlich sind jedoch die Erklärungen, was Schmerz ist und wie er zustande kommt, und die Deutungen, welchen Sinn Schmerz hat und wie mit ihm umzugehen ist.In der abendländischen Medizingeschichte und Heilkunde herrschten zunächst lange Zeit naturreligiöse Glaubensvorstellungen vor. Demnach sind Krankheit und Schmerz durch Übernatürliche Ursachen und Kräfte zu erklären. Mit der Entstehung einer rationalen Tradition in der griechischen Antike traten naturphilosophische Erklärungsversuche auf den Plan, wonach der gesamte Kosmos aus den vier Urelementen Feuer, Wasser, Erde und Luft und der menschliche Organismus aus den vier Säften Galle, Schleim, Blut und "schwarzer Galle" besteht.
Schmerz entsteht nach dieser Lehre der Humoralpathologie von Hippokrates (um 460 v. Chr. - um 370 v. Chr.) im Inneren des Körpers, wenn das ursprünglich ausgeglichene Verhältnis dieser vier Säfte durch bestimmte äußere oder innere Ursachen ins Ungleichgewicht gerät (Disharmonie, "Dyskrasie"). Dementsprechend beruhte die medizinische Behandlung auf dem Prinzip, die Säfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Hierfür galt über Jahrhunderte der Aderlass zur Ausleitung der Körpersäfte als das Mittel der Wahl. Diese humoralpathologische Konzeption der Medizin wurde im Mittelalter Überlagert von der sogenannten Iatrotheologie, wonach Krankheit und Schmerz primär auf Sünde (Erbsünde) zurückgehen und daher zunächst theologisch, erst dann ärztlich-medizinisch zu "behandeln" seien. Die Heilung von Krankheit und Schmerz könne nicht ohne Gottes Wille geschehen; daher müsse als erstes die menschliche Seele, anschließend Leib und Leben gerettet werden.
Solche metaphysisch-religiösen Vorstellungen wirken bis in die Gegenwart nach, zum Beispiel in manchen alternativmedizinischen Konzepten wie der Homöopathie. Entscheidend für die heutige Medizin und Schmerztherapie ist jedoch der Paradigmenwechsel hin zu einer naturwissenschaftlich orientierten theoretischen Grundlegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, angeregt durch die Entdeckungen in der Bakteriologie namentlich des Naturwissenschaftlers Louis Pasteur (1822 - 1895) und des Arztes Robert Koch (1843 - 1910) sowie der pharmakologischen Schmerzausschaltung (Analgesie und Anästhesie) in der operativen Medizin.
Seither haben wir zum einen ein neues Verständnis von der Natur und Funktion des Schmerzempfindens und seiner Rolle in der biologischen Evolution. Schmerzen haben in der Evolution des Tierreichs die Funktion, die Aufmerksamkeit auf schädigende Einflüsse zu lenken und zu einem reflexartigen Schutzverhalten zu führen. Bei lernfähigen Spezies wie dem Menschen lösen Schmerzen einen Lernvorgang aus, um die Schädigung in Zukunft vorausschauend zu vermeiden: "Gebranntes Kind scheut Feuer." Studien über schmerzunempfindliche Menschen haben die Bedeutung des Schmerzempfindens für den Selbstschutz herausgestellt.
Zweitens brachte die naturwissenschaftliche Forschung viele neue Medikamente und medizinische Methoden zur Schmerzbekämpfung und -ausschaltung hervor: Schmerzmedikamente wie Acetylsalicylsäure ("Aspirin?"), Paracetamol und die stark wirkenden Abkömmlinge des Morphiums oder Betäubungsmittel zur Allgemeinund Lokalanästhesie, ohne die die moderne Medizin nicht denkbar wäre. Chirurgen und Zahnärzte früherer Epochen hatten für ihre Patienten fast nur Alkohol und einige wenige betäubend wirkende Kräuter zur Verfügung, wenn sie schmerzhafte Eingriffe wie Zahnextraktionen oder gar Amputationen vornehmen mussten.
Bei Verletzungen infolge von Unfällen oder tätlichen Angriffen, bei Zahnschmerzen, Koliken oder simplen "Bauchschmerzen" können wir heute auf eine breite Palette spezifischer, hochwirksamer Medikamente zurückgreifen. Man darf wohl sagen, dass wir weniger tolerant und duldsam gegenüber der Zumutung von Schmerzen sind, die noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zum Alltag gehörten.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen