’Hören ist eine Kulturtechnik wie Lesen’

Tagung am Germanistischen Institut zu 100 Jahren Hörspiel

Die Rundfunksprecher Alexander Maass (rechts) und Ernst Hardt proben im Jahr 192
Die Rundfunksprecher Alexander Maass (rechts) und Ernst Hardt proben im Jahr 1927 für das Hörspiel ,,Mann ist Mann’ von Bertolt Brecht. © Deutsches Rundfunkarchiv
Wer heute an Hörspiele denkt, dem kommen vermutlich als erstes die "Drei ?" in den Sinn. Doch das Medium ist schon sehr viel länger populär: Am 24. Oktober 1924 wurde mit "Zauberei auf dem Sender" von Hans Flesch das erste Hörspiel in Deutschland ausgestrahlt. Seitdem ist das Format eine Erfolgsgeschichte. Umso verwunderlicher, dass das Hörspiel bisher kaum erforscht wurde. Die Germanistin Britta Herrmann und der Literaturund Mediendidaktiker Sebastian Bernhardt wollen dies ändern: Sie richten ab dem 24. Oktober die Tagung "100 Jahre Hörspiel - Die Anfänge der radiophonen Literatur in der Weimarer Republik" an der Universität Münster aus.

Das Hörspiel sei in der Forschung lange unterschätzt worden. Es galt als Zerstreuungsmedium, mit dem man sich nicht wissenschaftlich beschäftigen müsse. "Dabei gab es gerade in der Frühzeit eine sehr anspruchsvolle theoretische Reflexion und von Beginn an eine große Genrevielfalt", betont Sebastian Bernhardt. Die ersten Jahre des Hörspiels stellen die Forschung vor eine besondere Herausforderung, denn sie wurden live gesendet - es gab schlicht noch keine Aufzeichnungsmedien. Daher ist die Quellenlage eines der Schwerpunktthemen der Konferenz, neben der Theorie und Etablierung des Formats.

Von Anfang an bot das Hörspiel weit mehr als Unterhaltung. Auch interaktive Formate gab es bereits in der Frühphase. "Rundfunkzeitschriften fragten die Zuhörenden nach ihrem Urteil zu im Hörspiel behandelten Gerichtsprozessen oder ihrer Meinung zur Todesstrafe", schildert Britta Herrmann. Dies erinnere stark an heutige Bühnenbearbeitungen der Krimis von Ferdinand von Schirach. "Das Hörspiel trug zur politischen Teilhabe bei und bietet aufschlussreiche Quellen zur Erforschung der Weimarer Republik." Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann eine weitere Hochphase des Hörspiels. Viele Theater und Kinos waren zerstört, der Rundfunk allerdings ging sofort wieder auf Sendung. Bekannte Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Döblin oder Martin Walser schrieben Hörspiele. "Umso erstaunlicher, dass das Medium erst jetzt von der Wissenschaft entdeckt wird", findet Britta Herrmann.

Wie wird ein Text eingesprochen, wie muss sich die Sprache an das Medium anpassen? Welche Geräusche und Effekte werden verwendet und wie werden sie erzeugt? Das audiomediale Format wirft viele Fragen auf. "Nicht nur Schrifttext produziert Zeichen", erläutert Sebastian Bernhardt, "es gibt auch akustische Zeichen, etwa Grillenzirpen für die Nacht." Britta Herrmann unterstreicht: "Hören ist genauso eine Kulturtechnik wie Lesen. Das Unterscheiden von Fakt und Fiktion lässt sich auch anhand von Geräuschen trainieren." Gerade in der Didaktik glaubt Sebastian Bernhardt an einen Bedarf. "In alten Hörspielen sind Frauenstimmen oft sehr hoch und süßlich, Männer klingen eher hart und militärisch. Dieser Effekt wirkt teilweise heute noch nach." Inhaltlich zeigten sich konservative Tendenzen in nach wie vor sehr populären Kinderhörspielen wie "Bibi und Tina" und "TKKG", die unterschwellig konservative Frauenbilder und klassistische wie rassistische Stereotype fortschreiben. "Gerade Lehramtsstudierenden wollen wir vermitteln, solche Inhalte nicht unkritisch zu konsumieren", betont Sebastian Bernhardt.

Autorin: Anke Poppen

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen